Live your dreams

Live your dreams
Live your life
Step by step
Dance your song

– Maite Kelly, Live Your Dreams

Schon seit einiger Zeit hatte ich ein Ziel, einen Wunsch vor Augen: Ich wollte jeden Ort auf Sylt mit dem Fahrrad einmal abfahren. An einem Tag. Die Grenzen der Insel kennenlernen. Mich herausfordern. Letztes Jahr um diese Zeit habe ich 93km auf der Strecke Westerland – Hörnum – List – Ellenbogen zurückgelegt, doch bei meinen 20 bis maximal 30km pro Tag würden die angepeilten und grob überschlagenden 120km doch eine große Herausforderung sein. Und jetzt war es endlich soweit.
Start: Mittwoch, 31.05.2023, 8:02 Uhr, 📍Westerland
Start 08:02 Uhr, Westerland
Nach einer leider eher schlaflosen Nacht bin ich morgens mit meinem geliehenen Trekking-Rad losgefahren. Die Vorbereitung hatte etwas von einer Aufregung und Vorfreude, die ich eher von Laufevents kenne. Mein Losfahren war jedoch wenig spektakulär. Niemand wach, die Straßen eher leer, fast keine Menschen unterwegs. Eine angenehme Ruhe, ein wenig Sonnenschein bei 11 Grad Celsius und einer aktuellen Windgeschwindigkeit von 26km/h, also für Sylter Verhältnisse gefühlt „windstill“ 😉 .
Mein Weg führte mich zunächst über Tinnum – Keitum – Archsum nach Morsum ans Morsumer Kliff. Nach 12km machte ich dort auf einer Bank mit Blick aufs Kliff meine Frühstückspause. Um kurz vor neun waren erst sehr wenig Menschen dort unterwegs. Ein wenig am Kliff spazieren gehen und weiter ging´s.
Morsumer Kliff
Die erste Herausforderung kam mit dem Wind bei meinem Weg entlang des Seedeichs Richtung Rantum und über das Rantumbecken. Bei nordwestlichem Wind hatte ich jetzt das erste Mal Gegenwind und das gleich über einige Kilometer. Schön war dafür der Anblick der Schafe, die am Deich grasten.
Schafe am Deich
Beim Rantumbecken angekommen, hatte ich zunächst wieder Seitenwind. Der Wind pfiff mir mit einer Geschwindigkeit von bis zu 46km/h auch mit Mütze und Kaputze um die Ohren. Es war okay, auch anstrengend, aber als ich auf dem Deich wieder die Richtung nach Westen änderte, wurde es wieder ganz schlimm. Auf dem Deich war ich überhaupt nicht gegen den Wind geschützt. Da half nur noch jeden Meter einzeln zu sehen. Auch wenn es noch viele waren, bis ich erneut die Richtung ändern würde. Ablenkend war auch mein Hörbuch, was mich die meiste Zeit der Tour begleitet hat: Der Gesang der Flusskrebse von Delia Owens. Die Geschichte um Kya hat mich schon häufiger bei Radtouren vor allem auf Sylt begleitet. Es ist einfach zu schön, so detailliert von der Natur und Umgebung, in der Kya in North Carolina lebt, zu hören, während ich selbst durch die schönsten Dünen- und Heidelandschaften fahre, die Deutschland vermutlich zu bieten hat. Auch die Verfilmung ist wirklich toll, meines Erachtens ist es die beste Verfilmung einer Geschichte, die ich in der letzten Zeit gesehen habe! Aber all‘ das ist vermutlich ein neuer Blogpost wert. 😉
Der Weg am Rantumbecken
Der restliche Weg nach Hörnum entlang der Bundesstraße war dann wieder ganz gut und ich war auch mal wieder schneller unterwegs. Ich finde es generell schön, Fahrrad zu fahren und nicht darüber nachdenken zu müssen, was ich tue. Es schwingt so eine Leichtigkeit mit (bei Gegenwind dann doch nicht unbedingt).
Nach bereits 40 gefahrenen Kilometern habe ich am Hafen ich eine kurze Pause gemacht, aber es war eher zu kalt, um länger dort zu sitzen. Die Sonne war schon längst wieder hinter den Wolken verschwunden und war nur diffus und immer mal wieder kurz präsent.
Hörnumer Strand, in der Nähe des Leuchtturms
Auf dem Rückweg habe ich den Weg durch die Dünen gewählt. Bis Rantum führt ein Schotterweg durch die Dünen fernab der Straße, der mehr schlecht als recht zu fahren ist. Meine in dem Moment gewählte Herausforderung. Kyas Geschichte begleitete mich immer noch. Ihre dysfunktionale Familie, ihr Überleben als heranwachsendes Kind im Marschland, als ihr niemand mehr geblieben ist und später ihre ersten Bindungsversuche, in der Hoffnung, nicht wieder von Menschen enttäuscht und verlassen zu werden.
Weg entlang der Dünen zwischen Hörnum und Rantum
Der Weg nach Westerland war wieder schwieriger zu bewältigen und deutlich anstrengender. Endlich angekommen, stand eine längere Pause Zuhause an. Mit 58km hatte ich in etwa die Hälfte von meinen angepeilten und grob geschätzten 120km zurückgelegt.
Das Wiederanfangen und Wiederlosfahren war gar nicht so einfach. Wieder Energie und Motivation aufbringen, wieder aufs Fahrrad schwingen, wieder lostreten und losfahren. Allerdings kam jetzt der für mich schönste Teil der Strecke. Zunächst fuhr ich entlang der Dünen nach Wennigstedt, durch den Ort und an der Friesenkapelle vorbei zum Radweg durch Kampen nach List. Ich hatte mal stärkeren und mal weniger starken Gegenwind. Der Dünenradweg ist der schönste Weg der Insel und gleichzeitig ist er auch ein wenig tückisch. Ich bin den Weg schon so häufig gefahren und doch ist er jedes Mal länger als in meiner Erinnerung. Er zieht sich hin, sieht häufig sehr ähnlich aus, sodass es manchmal ein wenig enttäuschend ist, dass der Weg nach der nächsten Kurve doch wieder gleich aussieht und er immer noch nicht zu Ende ist. Hin und wieder lässt sich recht oder links das Meer erspähen, mal geht es eher die Düne hinauf, mal hinunter. Verschiedene Vögel sitzen und fliegen in der Dünenlandschaft, mal ist eine Maus vor mir den Weg entlanggeflitzt, mal habe ich einen Bogen um eine größere braune und etwas flauschig aussehende Raupe gemacht. Viele Personen waren jetzt am Nachmittag mit e-Bikes unterwegs und überholten mich, während ich ein wenig trotzig hinter ihnen her strampelte. Es geht auch ohne Motor, doch ist natürlich (vor allem bei dem Wind) nur um Einiges anstrengender.
Während Kya gerade mit vierzehn Jahren von einem Jungen aus der Stadt das Lesen und Schreiben beigebracht bekommt (weil sie nur einen Tag in ihrem Leben in die Schule gegangen ist und dabei so stark von den anderen Kindern für ihre Herkunft („Sumpfgesindel“) und ihr Nichtwissen darüber, wie man /h//u//n/d/ schreibt, ausgelacht und verspottet wurde, sodass sie nie mehr hingehen wollte), kämpfe ich mich nach List und direkt weiter an den Ellenbogen. Von List aus sind es noch knapp 10km zum schönsten Ort der Insel und jede Anstrengung, jeder Schweißtropfen und jedes (innerliche) Fluchen über den unglaublich starken Wind und die lange Strecke lohnen sich irgendwie. Es ist auch ein bisschen fies: von List aus sieht man noch den ganzen Weg, die letzten 10km, die noch zu fahren sind. Man hat einen Überblick über den ganzen Bogen, um an den nördlichsten Punkt Deutschlands zu kommen. Dafür sind unterwegs ganz viele (auch noch ganz kleine) Schafe zu beobachten, die dort im Landschaftsschutzgebiet unterwegs sind.
Schafe am Ellenbogen
Endlich am Ende der Insel angekommen, Schuhe ausziehen, Sand zwischen den Füßen genießen. Es ist immer noch sehr windig, aber vergleichsweise weniger. Die Natur ist unglaublich schön, es wirkt so unberührt. Es gibt dort eine Stelle, in der der westliche Teil der Nordsee der Insel und der östliche Teil aufeinandertreffen und eine starke lebensgefährliche Strömung erzeugen, die gruselig-beeindruckend zu beobachten ist. Auch dort saß ich lange, hab aufs Meer geschaut, Musik gehört und das Bisschen an Sonne und Windstille genossen, was ich an den Dünen bekommen habe.
Strand am Ellenbogen, das Baden ist hier lebensgefährlich
Als ich mich gegen 17 Uhr auf den Rückweg gemacht habe, war mein Fahrrad das letzte verbleibende. Das nun anstehende Stück war das wirklich anstrengendste. Bei dem Gegenwind war ich zum Teil gerade mal ein wenig schneller als die wenigen zu Fuß gehenden Menschen. Es war unglaublich frustrierend. Und anstrengend. Das Hörbuch war keine große Motivation mehr, sodass mich von da an die neuen Alben von P!nk und Die Nowak begleitet haben. Viele kleine Wegpunkte suchen und erreichen, motivierende Musik hören, nicht nachdenken, weiterfahren. Erst auf dem Deich direkt vor List hatte ich das erste Mal so richtig Rückenwind und erreichte Geschwindigkeiten, von denen ich davor eher geträumt habe.
We got a long way (We got a long way)
We got a long way to go (We got a long way)
And those heavy hours, they move so slow
– P!nk, Long Way to Go
Mein Rad war das letzte verbleibende
Noch mehr Schafe 🐑
Der Rest der Tour war eher unspektakulär. Ich habe den Weg an der Straße zurück nach Kampen gewählt, um noch durch Braderup und Munkmarsch zu fahren. Damit hatte ich alle Orte abgehakt. Der Weg zurück nach Westerland führte mich am Flughafen vorbei, aber ich habe noch einen Abstecher zum Aquarium in Westerland gemacht, als ich merkte, dass ich nicht ganz die 120km voll bekommen würde (die letzten vier Kilometer machten dann irgendwie doch keinen Unterschied mehr). Ich wollte dann doch das von mir anvisierte Ziel von 120km erreichen – und hab es erreicht! Gegen 19:30 Uhr habe ich die 120,27km mit 7:31h reiner Fahrzeit erreicht. #proudofme
Ich habe die Radtour so detailliert beschrieben, um sie selbst besser in Erinnerung zu behalten. Es ist so leicht, sich hinterher nur an das erreichte Ziel zu erinnern, davon zu erzählen, 120km Fahrrad gefahren zu sein und dabei die Anstrengung des Weges aus den Augen zu verlieren. Es war anstrengend, es war frustrierend, ja, und ich hätte es vermutlich auch gemacht, wenn mir die Anstrengung von den 93km von letztem Jahr noch präsenter in Erinnerung gewesen wäre (war sie aber nicht). Ich habe mir eine Herausforderung und ein Ziel gesetzt mit Rahmenbedingungen, die ich zum Teil nicht beeinflussen konnte (wie Temperatur und Windstärke bzw. -richtung). Theoretisch hätte ich jederzeit aufhören und abbrechen können und wäre dann irgendwie anders zum Beispiel mit dem Bus wieder zurück nach Hause gekommen. Aber der Wille und Ehrgeiz, mein festgelegtes Ziel dann auch zu erreichen, war dann doch zu groß. Es ist irgendwie schön zu merken und festzustellen, welche Ressourcen und Fähigkeiten ich auf dem Weg bei mir selbst (wieder-)entdeckt habe. Ob ich es wieder machen würde? Bestimmt! Vielleicht nächstes Jahr… 😉
Meine zurückgelegte Route: Westerland – Tinnum – Keitum – Archsum – Morsum – Archsum – Rantum – Hörnum – Rantum – Westerland – Wennigstedt – Kampen – List – Ellenbogen – List – Kampen – Braderup – Munkmarsch – Westerland (je roter, desto schneller war meine Geschwindigkeit, je grüner, desto langsamer).

Nachtrag 02.06.2023:

Ich habe viel davon geschrieben wie anstrengend und frustrierend meine Tour war. Aber es war auch in sehr vielen Momenten sehr, sehr schön. Und auch wenn ich heute, zwei Tage später bei 14 Grad Celsius, Sonnenschein und deutlich weniger Wind (also Sweatshirt-und-Shorts-Wetter), wieder den Dünenradweg entlangfahre, merke ich, dass ein unglaubliches Glücksgefühl mich überkommt. Egal ob Sonne, Wolken, Regen, Wind oder Sturm. Ein Gefühl von Zuhausesein.

Teil meines Lieblingsradwegs
Gänsefamilie unterwegs
Leuchtturm in Kampen

2 Kommentare bei „Live your dreams“

  1. Hallo Pauli, ich es genossen Deine Geschichte zu lesen. Sehr detailliert, sehr inspirierend! Dankeschön, dass Du sie mit uns teilst.
    Es braucht viel Kraft, speziell mental, um sich in schwierigen Momenten ‚durchzubeissen‘ und weiter zu machen. Das grosse Ziel in Etappen runter zu brechen, so wie Du es getan hast, hilft, weil man kleine Etappensiege erreichen kann, die einem Auftrieb geben.
    Be proud of your achievements 👍🚴🍀
    Well done!! Grow your mind and personality by getting ‚comfortable with uncomfortable‘
    Viele Gruesse aus Down Under

  2. Well done!! 💪🏻 Es ist toll, dass du‘s so detailliert beschrieben hast. Für dich. Und uns daran teilhaben lässt 💛

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