Hannover von unten

Was ist eigentlich Barrierefreiheit? Und was Inklusion? Schaffen wir es, alle Menschen unserer Gesellschaft in das alltägliche Leben zu integrieren?

Beim Wechsel der Straßenseite treten Komplikationen auf (HAZ Artikel von 2012 – seitdem hat sich doch ein wenig getan)

Einen Tag lang durfte ich Hannover von unten kennenlernen. Oder eher von Bauchnabelhöhe aus. In einem Rollstuhl. Von meinem Empfinden her hätte ich vor dem Experiment gesagt, Hannover sei barrierefrei. Oder zumindest besser unterwegs als beispielsweise Hamburg. In den letzten Jahren hat sich Einiges getan, vor allem was die Umbauten von Hochbahnsteigen angeht. Jetzt (2020) sind bereits 155 von 196 Straßenbahnhaltestellen barrierefrei.

Von John+Bamberg am Annastift bis in die Innenstadt war alles noch recht einfach. Überall abgeflachte Bordsteine, ein Hochbahnsteig zum Einsteigen, Menschen, die einer Rollstuhlfahrerin den für sie vorhergesehenen Platz freihalten. In der Innenstadt überall Aufzüge. Perfekt! Doch das Warten nervt. Ich muss mir vorher überlegen, wohin ich will und vor allem wie ich dorthin komme. Erstaunt hat mich, dass wir bei Hugendubel sogar in die Musikabteilung hinunter gekommen sind! Der Fahrstuhl in der Nische war mir bislang nie aufgefallen. Im Grunde ganz einfach. Nur an den einen Roman im obersten Bücherregal komme ich nicht…. zu klein.

Schwieriger dagegen war das Überqueren einer Straße, vor allem, wenn der Bürgersteig doch nicht ganz so flach war. Ohne Hilfe ist das oft nicht zu bewerkstelligen! Auch die Rampe im Bus war nicht ganz so einfach – man könnte es ja meinen! – aber so viel Kraft in den Armen und Schwung hatte ich nicht, um alleine reinzukommen. Das Herausfahren war dafür umso leichter. 😉

Die Fortbewegung in der Innenstadt und in den neuen Bussen und Bahnen der ÜSTRA war recht entspannt, doch wie wären wir nach Linden gekommen? In die Limmerstraße? Oder wie kommt man Freunde besuchen, die eine Mietwohnung der 60er im Hochparterre haben? Oder in die kleinen Läden in der Lister Meile oder Südstadt? Ohne fremde Hilfe wohl gar nicht.

Bei C&A haben wir vermutlich nachhaltig für mehr Achtsamkeit gesorgt, was das Thema Barrierefreiheit angeht: Mit dem Rollstuhl kam ich in die Umkleidekabine nicht hinein, also zumindest nicht vollständig. Was tut man dann, wenn man das schicke T-Shirt einmal Probetragen möchte?! Auf Nachfrage, ob es eine rollstuhlgerechte Kabine gäbe, waren die Mitarbeiter*innen zunächst unsicher. Alle Kabinen waren gleich groß – oder eher zu klein. Offensichtlich gab es bislang noch keine oder zumindest kaum Nachfrage. Doch wir hatten Glück! Zwischen zwei Kabinen gab es eine verschiebbare Wand, ich konnte das T-Shirt anprobieren ohne mich dem halben Flur zu präsentieren und die Verkäufer*innen hatten etwas gelernt.

Man muss sich immer durchfragen – das war die Erkenntnis des Tages. Selbst im Mezzo gab es ein Behinderten-WC, was mich sehr und gleichzeitig gar nicht überrascht hat. Bislang hatte ich nie eines gesehen, doch da es zum Hannover Pavillon gehört, war es auch gleichzeitig zu erwarten.

Positiv überrascht hat mich, dass die Menschen nicht übermäßig gestarrt haben. Also fast gar nicht. Heutzutage ist der Anblick eines*r Rollstuhlfahrer*in zwar schon völlig alltäglich, doch fühlte ich mich anfangs selber noch völlig unsicher in der neuen Rolle und schien die Blicke förmlich auf mich zu ziehen. An der Fußgängerhaltebucht vor Sportcheck wurde ich über die Straße gewunken – hätte mir diese*r Autofahrer*in auch als Gehende die Vorfahrt gegeben? Und in dem Geschäft selber wurde ich von einem Mitarbeiter unglaublich höflich begrüßt. Aber nur ich, nicht meine Begleiterin.

Die interessanteste Situation ergab sich im Reisebüro. »Entschuldigen Sie, wie funktionieren Flugreisen mit dem Rollstuhl?«  Die Antwort des Herrn war an meine Begleiterin gerichtet. Es würde schon einen Unterschied machen, ob wir nur von A nach B fliegen oder eine Pauschalreise buchen wollten. Bei letzterem müsste man mir – und da wandte er sich auch mal an mich – einige indiskrete Fragen stellen. Ob ich alleine auf Toilette gehen könne und, Sie wissen ja, barrierefrei muss das Hotel natürlich auch sein. Aber man müsse sich keine Sorgen um sie machen – falls sie alleine reisen wolle – sie würde bis zu ihrem Sitz im Flieger gebracht und natürlich auch am Zielflughafen von dort zur Gepäckausgabe gebracht. »Ah, vielen Dank für die Informationen.«, sagte ich und er schaute mir mal wieder ins Gesicht. So ganz habe ich mich nicht für voll genommen gefühlt.

Fazit des Tages: Man muss sich durchbeißen. Fragen. Quasi eine Extrawurst bestellen, aber anders geht es auch nicht! Um Hilfe bitten. Seine* Stimme erheben. Planen und zwar sehr gut!! Und viel Kraft in den Armen haben, wenn man nicht – wie ich – die meiste Zeit geschoben wird. 😉

Und noch ein paar Schlussworte: Ich denke Hannover ist mit der Barrierefreiheit gut dabei. Allerdings heißt barrierefrei nicht nur abgesenkte Bordsteine und Rampen, dazu gehören auch Rillen an den Bahnsteigen oder -übergängen, Gebäudetafeln in Blindenschrift und piepende Ampeln. It´s a work in progress!

 

 

Die neue TW 3000 – barrierefrei
Einstieg mit Stufen in der Limmerstraße

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Ein Kommentar bei „Hannover von unten“

  1. Klasse Artikel. Jetzt fehlt nur noch blog.saletzki.de voll barrierefrei zu machen. Etwa sinnvoll gefüllte ALT-Tags bei Bildern oder entsprechende Farbschemata für sehbehinderte Menschen.

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